Umgedrehter Unterricht: Was ist im Sprachunterricht besonders?

Einige der bekanntesten Protagonisten des Inverted Classroom sind Vertreter der Mathematik und Informatik (Loviscach, Spannagel), Chemie (Sams, Bergman) oder der Linguistik (Handke), also von MINT-Fächern. (Die Linguistik zähle ich mal zu den Naturwissenschaften.)

In den Sprachfächern sieht umgedrehter Sprachunterricht aber zum Teil ganz anders aus. Und das hat mehrere Gründe. Hier ein paar Thesen dazu:

  • Videos haben im Sprachunterricht einen großen Vorteil gegenüber Büchern: die Kombination von Bild und Ton.
    Zwar ist mehrkanaliges Lernen in allen Fächern günstig (siehe z.B. Mayer 2001[1]). Das macht ja gerade den Mehrwert von Videos aus. Aber bei Sprache gilt das speziell deshalb, weil der Klang nicht nur ein weiterer Lernkanal ist, sondern auch Lerninhalt: Gerade Anfänger können sich oft den Klang der Sprache allein vom Schriftbild her nicht wirklich vorstellen. Sie profitieren davon, die Sprache gleichzeitig zu hören und zu sehen.
    Es lohnt sich also, in den Videos viel zielsprachlichen Audioinput unterzubringen.
  • Das typische Lehrvideo ist ein Erklärvideo. Für den Sprachunterricht also häufig ein Grammatikvideo. Wie viel Grammatik wollen wir aber erklären? Häufig wird es damit übertrieben. (Ein guter Überblick zu der Frage, wie viel Grammatik der Mensch braucht, findet sich bei Raabe 2007-2009[2])
    Wir könnten es auch anders machen und implizites oder entdeckendes Lernen fördern. Auf dieses Prinzip setzt zum Beispiel die Sprachlern-Plattform Babbel oder das Sprachlernprogramm Rosetta Stone. Das heißt, in Out-of-class-Phasen können (statt oder neben Erklärvideos) andere Medien zum Einsatz kommen – solche, die zielsprachlichen Input geben (wie zielsprachige Spielfilmausschnitte, solche, die Üben ermöglichen und Feedback geben, oder eine Kombination daraus, so wie das bei Rosetta Stone funktioniert. Das kommt Lernenden mit einer Grammatik-Allergie entgegen. Diese Art von Out-of-class-Materialien sind von ganz anderer Art als die in Mathematik oder Linguistik eingesetzten.
    Andererseits gibt es Lernende, die explizite Regeln schätzen. Diese Leute könnte man doch wieder mit Erklärvideos oder Grammatikübersichten bedienen, ähnlich wie in MINT-Fächern.
    Auf diese Weise kommen unterschiedliche Lerntypen auf ihre Kosten. Außerdem können sich die Lernenden ihre Grammatikinformationen genau dann holen, wenn das Bedürfnis danach entstanden ist.
  • In allen Fächern gehört in die Präsenzphase der Austausch mit Anderen und die Unterstützung durch Lehrende. Lernen durch Lehren gehört dazu (mit peers) und Anwendungsaufgaben (mit Feedback oder Unterstützung durch Lehrende).
    Bei Sprachen ist das Allerwichtigste ohne Partner gar nicht möglich: die Kommunikation in der Zielsprache. Wenn es um schriftliche, asynchrone Kommunikation geht, lässt sich das auch in die Out-of-Class-Phase auslagern, z.B. Foren, in denen alle posten und antworten müssen.
    Für die Präsenzphase ist der Flipped Classroom hier die große Befreiung: Endlich Zeit für kommunikative Aufgaben, dadurch, dass Grammatik und Vokabeln ausgelagert werden und zur Vorbereitung auf die Kommunikation dienen.

Stimmt das oder kann man es auch anders sehen? Welche Konsequenzen kann das für umgedrehten Unterricht in den Sprachfächern haben? Und welche weiteren Unterschiede gibt es?

Ich bin gespannt auf Kommentare!


[1] Mayer, Richard E.: Multimedia Learning. Cambridge: Cambridge University Press, 2001.

[2] Raabe, Horst: ‘Wie viel Grammatik braucht der Mensch? Praktische und theoretische Reflexionen.’
Teil I (2007): In: PRAXIS Fremdsprachenunterricht 6/2007, S. 22-26
Teil II: www.praxis-fremdsprachenunterricht.de
Teil III(2009): In: PRAXIS Fremdsprachenunterricht 2/2009, S. 24-26

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert